Wie bereits im Beitrag ‚Was ist Achtsamkeit‘ erwähnt liegt ein weiterer Aspekt von Achtsamkeit in der Ethik. Hier liefern zunächst empirisch-psychologische Forschungen Ergebnisse, die uns westlich geprägten Menschen erklären, wie und warum sich Achtsamkeitspraxis auf das ethische Verhalten von Menschen auswirkt. Der wichtigste physiologische Effekt von Achtsamkeitspraxis ist die stärkere Vernetzung des Gehirns, die Zunahme der Spiegelneuronen und die Erweiterung und Verdichtung des PFC.
Die Grundfrage, aus buddhistischer Sicht, hierbei lautet: Wie generiere ich verdienstvolle Handlungen, also Handlungen, die heilsame Folgen bedingen? In der erweiterten Praxis generiere ich heilsame Handlungen nicht mehr zum Selbstzweck, sondern vor allem zur Befreiung aller fühlenden Wesen. Das ist Bodhisattva. Im Bodhicitta richte ich die Praxis der liebevollen Güte, die stark auf Achtsamkeitspraxis basiert, nicht mehr nur nach innen, sondern auch nach außen und innen wie außen. Durch die in Achtsamkeitspraxis erfahrene Einsicht der Verbundenheit mit allen Wesen, jetzt und über alle Zeiten, richte ich mein alltägliches Üben auf das Wohlergehen aller fühlenden Wesen. Dies ist ein besondere Aspekt des Mahayana und im Besonderen des tantrischen Buddhismus.
Im Westen wird der breit wahrgenommene Achtsamkeitsbegriff gegenwärtig vor allem durch seine psychologische Komponente geprägt, wobei hier die Elemente der Aufmerksamkeit und der Wahrnehmung im Vordergrund stehen. Psychologische Studien zielen vermehrt auf diese Faktoren, einige jüngste Studien auch auf den Bereich der Empathie. Dies entspricht aber nur einem Teil dessen was Achtsamkeit ist. Achtsamkeit ist eine Haltung verkörperter Ethik, die in das buddhistische epistemologische und ethische System verwoben ist. Gegenwärtig arbeite ich daran Parallelen des buddhistischen ethischen Systems und der westlichen Ethik herauszuarbeiten und somit der Achtsamkeitspraxis im westlichen Geistessystem eine Verankerung zu ermöglichen. So finden sich z.B. schon in der Nikomachischen Ethik etliche Bezugspunkte (z.B. die Ausrichtung der Theorie auf die Praxis, die Verortung des Anfangs des epistemologischen Prozesses im Menschen). Doch nicht nur bei Aristoteles sondern auch in der deontologischen Ethik finden sich Parallelen (z.B. die Prämisse keinem fühlenden Wesen Schaden zuzufügen).
Die in der Achtsamkeitspraxis geübte Wahrnehmung der bewussten Erfahrung von Moment zu Moment erfordert die Pflege von Geisteshaltungen, oder Tugenden, wie Freundlichkeit, Toleranz, Geduld, Großzügigkeit, Mitgefühl und Mut. Ohne diese Geistesschulung beschränkt sich die Praxis auf Kontemplation. Oft wissen wir aber nicht wie wir diese tugendhaften Eigenschaften und die damit verbundenen ethischen Verhaltensweisen kultivieren und pflegen können, auch wenn wir bestrebt sind dies zu tun. In der buddhistischen Praxis gibt es Empfehlungen wie diese Verhaltensweisen gefördert werden können, z.B. mittels Liebende Güte und Mitgefühlsmeditation (Metta). Wir können Achtsamkeitspraxis als Einladung verstehen diese Fähigkeiten zu pflegen. Wir können zu jedem Zeitpunkt beobachten, wie unser Gewahrsein durch den Versuch der unmittelbaren Erfahrung mit Freundlichkeit, Offenheit und Geduld zu begegnen, beeinflusst wird. Ganz unabhängig davon, ob die gegenwärtige Erfahrung angenehm, unangenehm oder neutral ist. Ziel ist nicht die Verdrängung von unangenehmen Gefühlen, Emotionen oder Gedanken und auch nicht das Streben zu angemehmen oder zumindest neutralen. In dieser Prasis sollte es auch keine Pflicht oder Erwartung eines Erfolgs geben sondern lediglich die freundliche Einladung an mich selbst es zu versuchen. Die Grundlage von Freundschaft ist eine nicht wertende, wohlwollende, liebevolle und wertschätzende Haltung dem Freund/ der Freundin gegenüber. Wenn ich diese innere Haltung täglich in jedem Moment achtsam mir selbst gegenüber übe stärke ich den inneren Dialog mit mir selbst und nähre meine Selbstliebe und meinen Selbstwert. Erst aus dieser grundlegenden Erfahrung heraus kann ich diese innere Haltung meinen Mitwesen gegenüber entwickeln und im Alltag in meinem Denken und meinen Handlungen verwirklichen. Die Freundschaft, das Mitgefühl mir selbst gegenüber ist also eine grundlegende Basis um diese Haltung in der Mitwelt und für alle Mitwesen zu verwirklichen und zum Ausdruck zu bringen. Dies ist keine Aufforderung alles zuzulassen und der Mitwelt urteilslos gegenüber zu stehen. Unsere Urteile und Bewertungen sind aber eine natürliche Konzequenz der aus der Übung erwachsenden ethischen Haltung die unser Handeln leitet und motiviert. Unsere Urteile und Bewertungen entstehen so aus seiner weniger vorurteilsbehafteten und weniger voreingenommenen, jedoch wohlwollenden Perspektive.
Mögen alle Wesen frei und glücklich sein.